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Rede von Stephan Weil, Niedersächsischer Ministerpräsident, beim Bund der Vertriebenen am 29. August 2015 in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Präsident Dr. Fabritius,

sehr geehrter Herr Klassohn,

lieber Herr Kollege Seehofer,

ich danke Ihnen zunächst herzlich für die Einladung, auf Ihrem Festakt einige Bemerkungen machen zu können. Ich bin dieser Einladung ausgesprochen gerne gefolgt. Seit 70 Jahren besteht eine sehr enge Verbindung zwischen dem Land Niedersachsen und den Vertriebe­nen – warum das so ist, werde ich in meinen Ausführungen noch verdeutlichen. Das gilt selbstverständlich auch für die anderen Länder und deswegen möchte ich eingangs sehr gerne meinen Kollegen Horst Seehofer, Stanislav Tillich und Volker Bouffier zu der Ver­leihung der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen gratulieren.

Das Jahr 2015 hat in vielfacher Hinsicht Gelegenheit gegeben, an die Entstehung der Bun­desrepublik Deutschland zu erinnern. Wenn man einmal in die Geschichte schaut, findet man viele Beispiele dafür, dass die Gründungsgeschichte, vielfach auch der Gründungsmy­thos eines Landes eine fortdauernde Bedeutung für das Selbstverständnis dieses Staates hat. Denken Sie an die Vereinigten Staaten von Amerika: Das Bild von freien, auf sich selbst gestellten Menschen, die sich ihr Land selbst erobern, prägt das amerikanische Nationalver­ständnis bis heute. Oder denken Sie an Großbritannien: Die Magna Carta war ein entschei­dender Schritt zur Etablierung der Freiheit und ist bis heute ein Gegenstand von nationalem Stolz. Dass historische Entwicklungen dabei auch gelegentlich ein wenig verklärt werden, tut eigentlich nicht viel zur Sache und schmälert die Strahlkraft einer solchen Gründungsge­schichte für die nachfolgenden Generationen nicht.

Auch die Bundesrepublik Deutschland hat eine Gründungsgeschichte. Sie beginnt an dem absoluten Tiefpunkt der deutschen Geschichte mit dem Kriegsende vor 70 Jahren. Der von Deutschland begonnene zweite Weltkrieg endete mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Die Kriegsfolgen waren in vielen Ländern verheerend, nicht zuletzt in Deutschland selbst. Die Menschen lebten in Trümmern, die Wirtschaft war ruiniert, es herrschte komplette Perspektivlosigkeit. Aber das war noch nicht alles, Deutschland befand sich zu dieser Zeit vor allem auch auf dem moralischen Tiefpunkt seiner Geschichte.

„Oh Deutschland, bleiche Mutter!
Wie sitzest du besudelt
unter den Völkern.
Unter den Befleckten
fällst du auf.“

So hatte Bertolt Brecht schon 1933 gedichtet, und er konnte kaum ahnen, wie sehr seine Prophezeiung wahr werden sollte. Die zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen, vor allem die in der Menschheitsgeschichte beispiellose Vernichtung von Millionen Men­schen mit industrieller Perfektion standen auch für ein moralisches Desaster des deutschen Volkes. Zu Recht ist daran in diesem Jahr aus Anlass des Kriegsendes vor 70 Jahren immer wieder erinnert worden.

Wir müssen uns diesen Hintergrund vor Augen führen, wenn wir die Nachkriegsgeschichte einordnen wollen. Das Kriegsende war eben nicht nur ein Ende, sondern vor allem auch ein Anfang. Deutschland, mindestens sein westlicher Teil, konnte tatsächlich von seinem Tief­punkt aus einen langanhaltenden Aufstieg antreten, der vielleicht heute noch nicht einmal abgeschlossen ist. Wie Phönix aus der Asche mutet die Geschichte in der jungen Bundesre­publik Deutschland an und der Gründungsmythos unseres Staates ist geprägt von Trümmer­frauen nach dem Kriegsende, von einem beispiellosen Wirtschaftswunder der Nachkriegs­zeit, nicht zuletzt übrigens auch von Bern 1954 – dem völlig überraschenden Weltmeistertitel der scheinbar chancenlosen deutschen Fußballnationalmannschaft.

Bis heute unterschätzt ist der Beitrag der Vertriebenen zu dieser Erfolgsgeschichte, obwohl er untrennbar mit dieser Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland verbunden ist. Das ergibt sich schon aus der schieren Zahl. Etwa zwölf Millionen Deutsche hatten, wie Sie wissen, ihre Heimat im Osten verlassen müssen und waren in den Westen geflüchtet. In Nie­dersachsen beispielsweise waren es mehr als 1,8 Millionen Vertriebene, die 1950 gezählt wurden, und damit mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung.

Ohne die Aufbauleistung dieser Menschen, die ja gleichzeitig das Trauma ihrer Vertreibung bewältigen und neue Wurzeln schlagen mussten, wäre der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege ganz und gar ausgeschlossen gewesen.

Nicht sehr oft wird dabei über die Schwierigkeiten gesprochen, die den Vertriebenen damals begegnet sind. Es waren nämlich zumeist nicht ausgebreitete Arme, die sich den Vertriebe­nen entgegenstreckten, sondern in vielen, vielen Fällen Distanz und Ablehnung, obwohl es sich ja auf beiden Seiten um Deutsche gehandelt hat, obwohl sie dieselbe Sprache spra­chen, obwohl sie dieselbe Kultur pflegten.

„Die Flüchtlinge und die Kartoffelkäfer werden wir nicht mehr los“, so hieß es damals in ei­nem hässlichen Bonmot und in vielen Familiengeschichten findet man Beispiele für diese Haltung. Trotzdem ließen sich die Vertriebenen nicht entmutigen, schufen sich eine neue Existenz und leisteten einen großen Beitrag zum Aufbau des gesamten Landes. Dafür ge­bührt Ihnen der verdiente Dank, gerade auch durch die nachfolgenden Generationen.

Wenn ich an diese Gründungsgeschichte unseres Landes erinnere, handelt es sich nicht bloß um eine historische Betrachtung. Zuwanderung aus tiefer Not heraus war von Anfang an prägend für die Bundesrepublik Deutschland und ist es über Jahrzehnte hinweg unter un­terschiedlichen Bedingungen geblieben.

Wir haben dafür in Niedersachsen ein sehr eindrückliches Beispiel, das Lager Friedland bei Göttingen. Ihnen allen wird Friedland ein Begriff sein. Die Geschichte dieses Lagers ist zu­gleich die Geschichte von Flucht und Vertreibung in den letzten 70 Jahren. Das Lager Fried­land wurde im September 1945 eröffnet und diente zunächst Vertriebenen aus den deut­schen Ostgebieten und dem Sudetenland als Zuflucht. Später waren es dann vor allen Din­gen Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft, die nach Friedland gelangten. Unvergessen ist der Empfang der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus Russland durch Bundeskanz­ler Adenauer im Jahr 1955. Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR waren dann seit den sechziger Jahren Bewohner des Lagers und vor allen Dingen seit den achtziger Jahren wurde Friedland das Aufnahmelager für tausende von Spätaussiedlern aus der früheren UdSSR.

Aber nicht allein deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger suchten Zuflucht im Lager Friedland, das Lager spiegelte auch immer wieder internationale Fluchtbewegungen wider. 1956 waren es Flüchtlinge aus Ungarn, 1973 aus Chile, 1978 gelangten Flüchtlinge aus Viet­nam – die sogenannten Boatpeople – nach Friedland und seit 2009 sind dort verstärkt iraki­sche Flüchtlinge angekommen.

Es ist eine vielschichtige Geschichte von Flucht und Vertreibung seit 1945, die sich im Lager Friedland widerspiegelt. Im nächsten Jahr wird dort ein Museum eröffnet werden, das sich dieser Geschichte widmet, und ich bin sicher, es wird ein wichtiger Platz für die Dokumenta­tion der bundesrepublikanischen Geschichte insgesamt werden.

Friedland ist auch aktuell wieder ein Spiegelbild von Fluchtbewegungen auf der Welt. Wir er­leben derzeit die größte Fluchtbewegung weltweit seit dem 2. Weltkrieg. Es sind rund 60 Mil­li­onen Menschen, die gegenwärtig gezwungenermaßen ihre Heimat verlassen haben und sich auf der Suche nach Zuflucht befinden. Friedland ist eine dieser Erstaufnahmeeinrichtun­gen, die für Flüchtlinge nach Deutschland vorgesehen sind, und das Lager steht in Anbe­tracht der hohen Zugangszahlen derzeit einmal mehr massiv unter Druck. Jetzt sind dort viel mehr Menschen untergebracht, als die Kapazitäten eigentlich hergeben – das ist in Friedland ebenso wie in vielen anderen Erstaufnahmeeinrichtungen unseres Landes.

Nach meinem Dafürhalten gehört es zu den großen, den ganz großen Vorzügen unseres Staates, dass unser Gemeinwesen bereit und in der Lage ist, aus seiner Vergangenheit zu lernen. Die Bundesrepublik steht inzwischen international beispielhaft für die gelungene Erin­nerungsarbeit eines Staates. So schwer das ist und so unvollkommen alle Bemühungen im­mer bleiben müssen, wir geben uns in der Bundesrepublik alle Mühe, aus der eigenen Ge­schichte zu lernen. Das ist häufig unbequem und belastend, aber es ist notwendig.

Deutschland hat vor dem Hintergrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für Frieden und Aussöhnung. Viele Beiträge aus der Bundesrepublik Deutschland heraus haben über Jahrzehnte hinweg zum Ausdruck gebracht, dass wir diese Verantwortung annehmen. Das Gleiche gilt für Mitmenschlichkeit und Solidarität, für Hilfe in der Not. Viele Familien in unserem Land haben in ihrer Geschichte eigene Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung. Wir wissen deswegen sehr genau, wie notwendig Hilfe für die Opfer von Gewalt und Unterdrü­ckung sind. Wenn wir uns selbst treu bleiben wollen, dann ist dies auch der Maßstab für un­seren Umgang mit Menschen aus vielen Teilen der Welt, die aus tiefer Not heraus zu uns kommen.

Gewiss, es können nicht alle bleiben, die derzeit zu uns kommen. Es ist eine dringende For­derung an die Bundespolitik, das Asylverfahren so zu beschleunigen, dass die Bleibeper­spektive rasch geklärt wird. In dem einen Fall müssen wir uns um die Integration von Men­schen kümmern, die Anspruch auf Asyl haben. In dem anderen Fall müssen wir Menschen veranlassen, unser Land wieder zu verlassen. Aber machen wir uns nichts vor: Es ist ein durchaus hoher Anteil von Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive, die derzeit zu uns kommen – sehr viel höher als etwa in den neunziger Jahren. Das sind Menschen, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben, die alles aufgegeben haben und die bei uns Schutz suchen.

In diesen Menschen können viele von uns die eigene Familiengeschichte wiedererkennen, in diesen Menschen spiegelt sich dieselbe Not wieder, die vor 70 Jahren Millionen deutsche Vertriebener erlitten haben. Um nur ein besonderes schlimmes Beispiel zu erwähnen: Viele Frauen haben 1945 auf der Flucht sexuelle Gewalt erleiden müssen. Heute sind es im Irak und in Syrien wieder Frauen, die Opfer widerwärtiger Verbrechen wer­den. Die historischen Bedingungen mögen unterschiedlich sein, die Not der betroffenen Menschen ist vergleich­bar.

Deswegen ist der respektvolle Umgang mit Flüchtlingen und mitmenschliche Hilfsbereitschaft auch die richtige Lehre aus unserer eigenen Gründungsgeschichte als Bundesrepublik Deutschland. Der Staat des Grundgesetzes ist nicht blind, er kennt Mitgefühl und Mit­menschlichkeit. Umgekehrt gilt: Menschenverachtende Parolen, Hass und Gewalt passen nicht zu uns und passen nicht zu unserem Staat. Geben wir ihnen keine Chance!

Die Geschichte hat es gut gemeint mit uns und mit der Bundesrepublik Deutschland. Verglei­chen wir einmal unsere Situation heute mit der unserer Eltern und Großeltern – das Ergebnis wird sehr eindeutig ausfallen. Vergleichen wir unsere Situation mit dem Leben von Men­schen in vielen anderen Teilen der Welt – wir können tiefe Dankbarkeit für die Bedingungen empfinden, unter denen wir leben.

Daraus folgt aber zugleich auch eine Verpflichtung. Die Verpflichtung, die eigene Geschichte im Hinterkopf zu behalten und als Auftrag für Gegenwart und Zukunft unseres Landes zu verstehen.

„Vertreibungen sind Unrecht – gestern wie heute“. Sie haben sich für den Tag der Heimat 2015 ein Motto gewählt, zu dem man nur gratulieren kann. Der Opfer von Krieg, Gewalt und Vertreibung zu gedenken, und sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist die eine Seite der Medaille. Den heutigen Opfern zu helfen, ihnen als Mitmenschen zur Seite zu stehen – das ist die andere Seite der Medaille und in diesen Tagen eine besonders aktuelle Anforde­rung.

70 Jahre nach der Vertreibung von Millionen von Deutschen aus den Ostgebieten, 70 Jahre nach dem schwierigen Neubeginn ist die Geschichte lebendig. Sie ist es unter anderen Be­dingungen als vor 70 Jahren, aber Flucht und Vertreibung, Hass, Intoleranz und Gewalt gibt es heute wie vor 70 Jahren. Bleiben wir uns selbst treu und engagieren wir uns für die Opfer unserer Tage.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Presseinformationen

Artikel-Informationen

erstellt am:
29.08.2015

Ansprechpartner/in:
Pressestelle der Niedersächsischen Landesregierung

Nds. Staatskanzlei
Planckstraße 2
30169 Hannover
Tel: 0511/120-6946
Fax: 0511/120-6833

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