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Regierungserklärung von Ministerpräsident Stephan Weil am 8. März 2016: Integration der Flüchtlinge – unterwegs auf einem langen Weg

Anrede,

wenn wir in diesen Tagen auf die politische Lage in Europa und in Deutschland schauen, se­hen wir eine kombinierte Krise. Es ist eine seit Monaten unvermindert anhaltende Unfähigkeit in Europa, auf die großen Flüchtlingswanderungen gemeinsam zu reagieren. Und es ist eine europäische Krise, weil damit die Handlungsfähigkeit der europäischen Gemeinschaft insge­samt akut gefährdet ist.

Minister Stefan Wenzel und ich sind vor acht Tagen in Brüssel gewesen. Wir hatten Gele­genheit, in kurzer Zeitabfolge Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Parlamentspräsi­dent Martin Schulz und eine ganze Reihe von in diesem Zusammenhang wichtigen Mitglie­dern der Kommission zu sprechen. In allen diesen Gesprächen ist uns eine tiefe Sorge im Hinblick auf die Zukunft der Europäischen Union begegnet und zugleich die nüchterne Fest­stellung, der notwendige Einigungswille zwischen den Mitgliedstaaten sei derzeit nicht er­kennbar.

Wie sieht es derzeit aus mit der Aufnahme von Flüchtlingen in unserem Land? Seit dem Jah­resbeginn hat Niedersachsen ca. 16.000 Personen aufgenommen, das entspricht einem Wo­chendurchschnitt von etwa 1.800 Menschen oder mehr als 250 Menschen täglich. Wer sich an dieser Stelle freut über den Rückgang der Zugangszahlen gegenüber den Erfahrungen der letzten Monate, der freut sich zu früh. Denken Sie an die Situation der Flüchtlinge in Griechenland. Dort warten Zehntausende von Menschen auf eine Weiter­reise, größtenteils nach Deutschland. Bedenkt man dann noch die schlechten Witterungsbe­dingungen in dieser Jahreszeit, gibt es nur eine Schlussfolgerung: es gibt keinen Grund zur Entwarnung!

Und lassen Sie mich hinzufügen: Mehr denn je bin ich davon überzeugt – es gibt nur eine vernünftige Lösung, aber viele unvernünftige Lösungen. Es wird entweder eine gemeinsame europäische Vorgehensweise geben oder eine Reihe von nationalen Alleingängen. Die Leid­tragenden solcher Alleingänge, das sehen wir auf dramatischer Weise derzeit an der griechi­schen Grenze, sind die Flüchtlinge.

Diese Fragen sind auch von entscheidender Bedeutung für die innere Entwicklung in Deutschland. Wir sehen doch genau, vor welcher Aufgabe wir stehen. Im vergangenen Jahr waren alle Beteiligten in einem permanenten Krisenmanagement gefordert, Massenobdach­losigkeit zu verhindern. Das ist gelungen und mein Dank gilt den Kommunen für ihr Engage­ment sowie den Bediensteten des Landes, ob sie nun in Aufnahmeeinrichtungen oder bei Polizei oder an anderen Stellen angepackt haben. Vor allem aber erleben wir bis zum heuti­gen Tage eine überwältigende Hilfsbereitschaft der Mitglieder von Hilfsorganisationen der Kirchen, vieler anderer Organisationen und tausender Bürgerinnen und Bürger, die sich en­gagieren. Diese Erfahrungen machen Mut für die nächste Etappe, in der wir nun stehen.

Zurecht rückt nun die Aufgabe der Integration in den Mittelpunkt des Interesses. Gewiss nicht alle, aber gewiss sehr viele Flüchtlinge werden viele Jahre und vielleicht für immer in Niedersachsen bleiben. In ihrem Interesse und im Interesse von uns allen sollen sie so schnell und so gut wie möglich in unserer Gesellschaft ankommen und Teil unserer Gemein­schaft werden. Das ist gut für die Menschen, um die es geht, und die noch einmal etwas ma­chen wollen aus ihrem Leben. Und das ist notwendig für eine erfolgreiche Zukunft unserer Gesellschaft.

Darin sind wir uns in Niedersachsen in hohem Maße einig. Das zeigt vor allem die Resonanz auf die Initiative „Niedersachsen packt an“, der dankenswerterweise fast alle gesellschaftlich relevanten Organisationen inzwischen angehören einschließlich der in dem Landtag vertrete­nen Parteien. Wir sind uns in dieser Haltung sehr einig und wir sollten diese Einigkeit immer und überall nach vorne stellen!

Lassen Sie mich einen Zwischenstand und einen Ausblick geben, wo wir bei den Integrati­onsbemühungen stehen und wohin wir wollen.

Ein besonders wichtiges Handlungsfeld ist die Wohnungspolitik. Es ist doch gar keine Frage, dass der Druck auf den Wohnungsmarkt gestiegen ist. Alleine die Nachfrage nach Wohn­raum für die Menschen, die zu uns gekommen sind, beeinflusst die Verhältnisse und auch den Mietmarkt. Ich nehme dieses Thema sehr ernst – eine Konkurrenz zwischen denjenigen, die neu dazugekommen sind, und denen, die auch bisher schon Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt hatten, müssen wir unbedingt vermeiden. Das wäre Gift für den sozialen Frieden! Und aus aktuellem Anlass füge ich hinzu: Eine solche Sichtweise als Neid-Debatte abzutun, halte ich für absurd.

In Niedersachsen sind wir voran gegangen. Sozialministerin Cornelia Rundt hat bekanntlich nahezu eine halbe Milliarde Euro für die Förderung von sozialem Wohnungsbau mobilisiert, gemeinsam mit der N-Bank und unter Nutzung von Entflechtungsmitteln des Bundes. Wir werden auf diese Weise mehr als 5.000 Wohnungen öffentlich fördern können.

Auf der Bundesebene konzentrieren sich die Diskussionen zwischen dem Bund und den Ländern derzeit auf steuerliche Erleichterungen für den Wohnungsbau. Ich bin optimistisch, dass wir noch in diesem Halbjahr ein entsprechendes Gesetz beschließen können und damit einen weiteren Anstoß für mehr Wohnungsbau geben.

Das wird aber nicht reichen. Zur Jahresmitte wird Sozialministerin Cornelia Rundt ein Mieter­schutzpaket auf den Tisch legen. Damit wird die Mietpreisbremse für eine ganze Reihe von Städten eingeführt und es werden verschiedene andere Maßnahmen ergriffen. Wir wollen Mieterinnen und Mieter schützen vor nicht tragbaren Mietbedingungen oder einer künstlichen Verknappung des Wohnungsangebotes. Gerade unter den aktuellen Bedingungen muss Mieterschutz ein wichtiges Anliegen sein.

Nach der Sommerpause wird eine Integrationskonferenz im Rahmen des Bündnisses „Nie­dersachsen packt an“ die bisher ergriffenen Maßnahmen bewerten und, so hoffe ich, den weiteren gemeinsamen Weg abstimmen.

In diesem Zusammenhang will ich aber eines klar und deutlich sagen: Ich bin der festen Überzeugung, wir werden noch mehr öffentlich geförderten Wohnungsbau in diesem und in den nächsten Jahren benötigen. Unterschätzen wir nicht die Bedeutung der Wohnungspolitik für den sozialen Frieden. Ich fordere deswegen den Bund auf, sein Engagement in diese Richtung deutlich zu erhöhen.

Ein zweites entscheidendes Handlungsfeld ist die Integration von Kindern und Jugendlichen in das Bildungssystem. Die Bedeutung dieser Aufgabe liegt auf der Hand. Für das weitere Leben dieser jungen Menschen in einer für sie völlig fremden Umgebung ist Bildung der ent­scheidende Schlüssel.

Das gilt für die frühkindliche Förderung in den Kindertagesstätten, das gilt für den Besuch der Schule. Die genauen Zahlen werden in den nächsten Wochen ermittelt sein, aber derzeit besuchen schätzungsweise 25.000 Kinder und Jugendliche, die nicht die deutsche Sprache sprechen, Schulen in Niedersachsen. Dabei handelt es sich zwangsläufig um eine sehr hete­rogene Gruppe, die von potentiellen Abiturienten bis zu Analphabeten reicht.

Kultusministerin Frauke Heiligenstadt hat durch 20 Bausteine zur Sprachförderung den Schulen dafür ein Instrumentarium an die Hand gegeben, das je nach Situation die relativ beste Vorgehensweise ermöglichen soll. Lassen Sie mich nur einige Beispiele hervorheben:

Wir haben inzwischen über 700 Sprachlernklassen in Niedersachsen, mehr als 600 in den allgemeinbildenden und 100 in den berufsbildenden Schulen. Bis jetzt hatte ich zwei Mal die Gelegenheit, solche Sprachlernklassen zu besuchen, und ich war tief beeindruckt von dem spürbaren, mit den Händen zu greifenden Willen, ganz schnell die deutsche Sprache zu ler­nen und ganz schnell am allgemeinen Unterricht teilzunehmen. Nicht weniger eindrucksvoll waren für mich die dortigen Lehrerinnen und Lehrer, die sensibel und zielgerichtet ihre Klasse vorangebracht haben. Lassen Sie mich diesen Lehrerinnen und Lehrern stellvertre­tend für alle anderen Pädagoginnen und Pädagogen, die sich an den niedersächsischen Schulen in der Sprachförderung engagieren, dafür herzlich danken!

Das Land hat auch etliche andere Maßnahmen der Sprachförderung in die Wege geleitet, z.B. integrative Sprachförderkurse. Es sind insgesamt 7.500 Lehrerstunden bereitgestellt worden. Hervorheben will ich in diesem Zusammenhang auch die Bereitschaft von Pädago­ginnen und Pädagogen, aus den Ruhestand für eine solche Aufgabe zurückzukehren – mehr als 300 davon haben dieser Bitte des Landes entsprochen. Herzlichen Dank dafür!

Weitere Schwerpunkte will ich hier nur gewissermaßen im Zeitraffer aufrufen: Die Errichtung von 15 Sprachbildungszentren zur Beratung von Lehrerinnen und Lehrern überall in unserem Land, die Einrichtung von 150 Sprintklassen in fast 70 Berufsschulen (ein höchst nachge­fragtes Angebot), usw. usw.

Weil das Thema schon ausführlich im Landtag erörtert worden ist, möchte ich Ihnen auch gerne den aktuellen Zwischenstand zum Ausbau der schulischen Sozialarbeit geben. Auf die Ausschreibung von 100 Stellen, mit denen rund 150 Grundschulen versorgt werden sollen, gibt es rund tausend Bewerbungen. Diese Bewerbungen werden jetzt sukzessive geprüft und entschieden. Weitere 167 Stellen sind derzeit Gegenstand von Gesprächen mit den Kommunalen Spitzenverbänden über ein Gesamtkonzept für schulische Sozialarbeit und werden nach dem Auslaufen des sog. Hauptschulprofilierungsprogramms zum nächsten Schuljahr besetzt werden.

Im Zusammenhang mit unseren Schulen möchte ich gerne auch noch auf einen Aspekt auf­merksam machen, der mir bis jetzt in der Integrationsdebatte zu kurz gekommen zu sein scheint. Integration funktioniert dann gut, wenn Menschen, vor allem junge Menschen, Zeit mit einander zubringen, wenn sie sich kennenlernen und Freundschaften schließen. Vor die­sem Hintergrund ist der zielstrebige Ausbau von Ganztagsschulen von erheblicher Bedeu­tung. Wir haben die Förderung des Landes für Ganztagsschulen in nur zwei Jahre um na­hezu 1/3 erhöht. Heute sind mehr als 60 % der allgemeinbildenden Schulen Ganztagsschu­len und sie machen sehr gute pädagogische Angebote. Niedersachsen wird Ganztagsschul­land und das hilft uns gerade bei der Integration sehr!

So wichtig der Blick auf die jungen Menschen ist, die zu uns gekommen sind, sie sind nicht die Mehrheit. Der Hauptteil, etwa 2/3 der Flüchtlinge sind Erwachsene. Die Erwachsenenbil­dung steht, das ist unschwer festzustellen, vor einer enormen Herausforderung.

Ich habe kürzlich ein Gespräch mit dem Deutschen Volkshochschulverband geführt. Diese Expertinnen und Experten haben eindringlich hervorgehoben, wie wichtig es ist, Sprachför­derung für erwachsene Flüchtlinge so früh wie möglich und unabhängig von dem Aufent­haltsstatus oder der Bleibeperspektive durchzuführen. Auf meine Frage, welches Land in dieser Hinsicht ihres Erachtens Maßstab sei, haben sie zu meiner Freude Niedersachsen ge­nannt. Und es ist in der Tat eindrucksvoll, in welcher Breite Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic die Sprachförderung für Flüchtlinge in Bewegung gebracht hat.

Hervorzuheben sind dabei die etwa 700 Sprachkurse, durch die derzeit mehr als 13.000 Flüchtlinge derzeit die notwendigen Grundlagen für das Leben in Deutschland erhalten und am Jahresende sollen es nahe 33.000 sein.

In hohem Maße werden die ersten Schritte der Sprachförderung in den Städten und Gemein­den durch Bürgerinnen und Bürger begleitet, die sich freiwillig zur Verfügung stellen. Etwa 3.000 dieser ehrenamtlich engagierten Menschen wollen wir fortbilden und damit rechnerisch mehr als 40.000 Flüchtlingen ebenfalls eine Anleitung für die deutsche Sprache geben.

Oder um ein drittes Beispiel zu erwähnen: Deutsch als Zweitsprache wird in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer in besonderer Weise nachgefragt. Mehr als 500 Studierende ha­ben in Niedersachsen bereits eine entsprechende Basisqualifikation erhalten und engagieren sich ihrerseits nun in der Sprachförderung. Auch dieses Angebot wird ausgebaut.

Die Sprachförderung wird in der nächsten Woche Gegenstand der ersten Integrationskonfe­renz des Bündnisses „Niedersachsen packt an“ sein. Derzeit laufen die Vorbereitungen für diese Konferenz auf Hochtouren und es gibt ein sehr erfreuliches Interesse, die Konferenz ist bereits ausgebucht. Ich freue mich sehr und bin gespannt auf die erste Integrationskonfe­renz. Ich hoffe, an ihrem Ende steht eine klare, zwischen den unterschiedlichen Beteiligten abgestimmte Förderkette, die es unterschiedlichen Zielgruppen ermöglicht, so schnell wie möglich zu ihrem ganz persönlichen Ziel zu gelangen, sich in der deutschen Sprache auszu­drücken.

Selbstverständlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Sprachförderung für Er­wachsene und der Integration in den Arbeitsmarkt. Für die Vermittelbarkeit auf unserem Ar­beitsmarkt ist die deutsche Sprache eine zwingend notwendige Voraussetzung. Dieser Ar­beitsmarkt, lassen Sie mich das in diesem Zusammenhang sagen, erweist sich in Nieder­sachsen nach wie vor als auch im Bundesvergleich besonders robust und aufnahmebereit. Darüber bin ich sehr froh ebenso wie über die unverändert anhaltend große Bereitschaft von Unternehmen, sich für die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt zu engagieren.

Die Zuwanderung von geflüchteten Menschen ist eine große Chance für viele Betriebe in Niedersachen den Fachkräftebedarf zu decken. Der Arbeitsmarkt in Niedersachsen ist schon heute in vielen Bereichen geprägt von Fachkräftemangel. Wir brauchen Zuwanderung, um dies auszugleichen. Zuwanderung ist also auch ein Gewinn und eine Chance für den Wirt­schaftsstandort Niedersachsen. Ohne Nettozuwanderung würde das Erwerbspersonenpo­tenzial in den nächsten 10 Jahren in Deutschland um rund 4 - 5 Mio. sinken. Wir haben da­her allen Anlass, Integration als Zukunftsinvestition, als Chance für Fachkräftesicherung und duale Berufsausbildung zu begreifen.

Wirtschaftsminister Olaf Lies hat im vergangenen Jahr wichtige Projekte angeschoben, die zeigen, in welche Richtung es gehen wird. Ich nenne die Bestandsaufnahme vorhandener Kompetenzen bei Flüchtlingen, ich nenne das Integrationsprojekt handwerkliche Ausbildung für Flüchtlinge und Asylbewerber, ich nenne die zentrale Beratungsstelle Arbeitsmarkt und Flüchtlinge des Caritasverbandes für die Diözese Osnabrück als Beispiele.

Die Landesregierung wird in diesen Anstrengungen fortfahren, wir wissen aber sehr genau, dass wir dabei nur ein Beteiligter sind. Von zentraler Bedeutung ist die Bundesagentur für Ar­beit und auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ich hatte erst am gestrigen Tage ein Gespräch mit Herrn Weise, der bekanntlich beiden Behörden in Personalunion vorsteht – eine kluge Entscheidung, wie ich meine.

Die Integration in den Arbeitsmarkt ist ein eminent wichtiges Thema und ich freue mich, dass alle Beteiligten fest entschlossen sind, gemeinsam voranzugehen. Anfang Juni 2016 wollen wir auf einer weiteren Integrationskonferenz des Bündnisses „Niedersachsen packt an“ die Abstimmung für eine effiziente Arbeitsmarktpolitik für Flüchtlinge verabreden und, so hoffe ich, auch in dieser Hinsicht eine entsprechende Förderkette vereinbaren. Die bisherigen Kontakte in dieser Hinsicht stimmen mich ausgesprochen zuversichtlich.

Dieses Vorgehen entspricht dem, was ich Ihnen schon zur Wohnungspolitik und zur Sprach­förderung berichtet habe. Wir arbeiten gemeinsam mit den anderen Beteiligten systematisch an abgestimmten Konzepten, an Förderketten. Wir wollen und wir werden zusammen mit un­seren Partnern Konzepte aus einem Guss entwickeln. Das ist der richtige Weg für eine nach­haltige Integration.

Der guten Ordnung halber füge ich hinzu: Selbstverständlich werden wir dabei auch darauf achten, dass alle Maßnahmen und Angebote gleichermaßen für Frauen und Männer zur Ver­fügung stehen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aber auch die andere Seite der Medaille anspre­chen. Integration ist ein gegenseitiger Prozess. Er setzt die Bereitschaft voraus, sich auf eine neue Heimat einzulassen. Und er setzt umgekehrt die Bereitschaft voraus, Menschen neu in unserer Gemeinschaft aufzunehmen.

An dieser Stelle müssen wir nicht drum herum reden, es gibt eine spürbare Verunsicherung bei vielen Menschen in unserer Gesellschaft, auch eine durchaus wachsende Besorgnis. Auf diese Entwicklung setzen übrigens auch Rechtsextremisten, deren Aktivitäten unsere Sicher­heitsbehörden mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Über 100 Anschläge auf Flüchtlingsun­terkünfte hat es in Niedersachsen bislang leider schon gegeben, Rechtsextremisten verlieren mehr und mehr Hemmungen. Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich aus aktuellem An­lass eines hervorheben: Der Antrag der Länder, die NPD zu verbieten, ist heute m.E. noch wichtiger als zur Zeit der Antragstellung. Rechtsextremisten müssen wissen, dass ihnen der Staat auf den Füßen steht. Sie müssen auch wissen, dass der Staat seine Möglichkeiten nutzt, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zu bekämpfen. In diesem Sinne bin ich ge­spannt auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Und übrigens: Es ist sehr zu bedauern, dass sich Bundestag und Bundesregierung der Initiative der 16 Länder nicht an­geschlossen haben. Unser Staat sollte gemeinsam Entschiedenheit demonstrieren.

Bundespräsident Joachim Gauck hat in einer seiner vielen klugen Reden zum Thema der Flüchtlingsnot vor kurzem darauf hingewiesen, es ginge darum, „die Besorgten und die Be­geisterten“ zusammenzubringen. Genau das ist die Aufgabe. Bürgerinnen und Bürger, die Sorgen haben wegen der Zuwanderung, sind deswegen noch lange nicht rechts. Unser Staat muss sehr schnell in allen Bereichen zur uneingeschränkten Handlungsfähigkeit zu­rückfinden. Damit meine ich vor allem die Beschleunigung der Asylverfahren und die genaue und für öffentliche Stellen zugängliche Registrierung von allen Menschen, die in unser Land kommen. Auch das war, wie Sie sich vorstellen können, Gegenstand meines Gespräches mit Herrn Weise.

Wir müssen aber auch an etwas anderem arbeiten. Herr Heribert Prantl hat kürzlich pointiert ausgeführt: „Typisch deutsch sind nicht Heimatland, Sauerkraut und Gipfelkreuze. Sondern typisch deutsch sind Demokratie, Rechtsstaat und Grundgesetz“. Es geht also um Werte und um Wertevermittlung.

Deswegen ist es so wichtig, dass die Landeszentrale für Politische Bildung bei uns in Nieder­sachsen endlich wieder ihre Arbeit aufnimmt. Die Arbeit des Bündnisses „Niedersachsen packt an“ besteht nach ihrem Verständnis ebenfalls darin, die Wertegemeinschaft bei uns in Niedersachsen zu betonen. Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist sehr groß, die Übereinstimmung in großen Teilen der Bevölkerung ist unübersehbar. Wir sind gemeinsam gut beraten, diese gemeinsame Basis auch gemeinsam in den Vordergrund zu stellen. Las­sen wir den Spaltern keine Chance!

Wertevermittlung ist auch gegenüber Flüchtlingen enorm wichtig. Die Werte des Grundgeset­zes stehen nicht zur Disposition, sie sind die Grundlage unseres Zusammenlebens. Lassen Sie mich nur einen dieser Werte aus aktuellem Anlass beispielhaft nennen, denn heute ist der Internationale Frauentag. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist fundamental für unsere Gesellschaft. Meine Erwartung ist, dass dies bei allen Integrationsangeboten deutlich wird.

Wir leben in einer freien und offenen Gesellschaft, wir haben den Anspruch auf Toleranz und Vielfalt. Aber wir sind nicht beliebig, wir werden die Einhaltung staatlicher Regeln konsequent einfordern, Zuwiderhandlungen verfolgen und die öffentliche Sicherheit sehr ernst nehmen. Unter der Verantwortung von Innenminister Boris Pistorius haben wir in Niedersachsen im Jahre 2016 so viele Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, wie noch niemals in unserer Lan­desgeschichte. Ich bin diesen Beamtinnen und Beamten für ihre Arbeit außerordentlich dankbar. Die Polizei in Niedersachsen verdient unser aller Vertrauen und unsere Unterstüt­zung bei ihrer schwierigen Arbeit.

Und lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine letzte Bemerkung machen: Der Staat steht in dieser Situation auf dem Prüfstand, das ist richtig. Das gilt aber auch für den Zusam­menhalt in unserer Gesellschaft, dieser Zusammenhalt ist mehr denn je gefordert. Nicht zu­letzt vor diesem Hintergrund hoffe ich, dass unsere weiteren Beratungen über einen Vertrag mit den großen muslimischen Glaubensgemeinschaften konstruktiv geführt und erfolgreich beendet werden können. Migrantinnen und Migranten, die sich als Teil unserer Gesellschaft verstehen und sich die Werte des Grundgesetzes zu eigen machen, sind gerade gegenüber den vielen tausend Flüchtlingen in unserem Land häufig die besten Botschafter und Brü­ckenbauer. Die damit verbundene Chance sollen wir nutzen.

Im Rahmen einer solchen Erklärung besteht natürlich die Versuchung, in aller Breite und bis in das letzte Beispiel Aktivitäten darzustellen und zu würdigen. Ich habe mich bemüht, mich auf Schwerpunkte zu konzentrieren, es gäbe daneben noch sehr viel mehr zu berichten dar­über, was zur Integration von Flüchtlingen in unserem Land geschieht und geschehen wird.

Ist das alles viel oder wenig, ist das genug? Nun, nach meiner Überzeugung ist es in einer beeindruckenden Breite und Tiefe gelungen, die Integrationsarbeit mit und für Flüchtlinge zu etablieren. Es ist viel, es ist sehr viel, was geschieht – das kann man sicher sagen. Das ist vor allem ein Kompliment an tausende Menschen, die in allen Teilen unseres Landes in viel­fältiger Art und Weise mithelfen – sei es beruflich, sei es durch privates Engagement. Die Haltung dieser Menschen – es kann nicht oft genug wiederholt werden – ist vorbildlich! Einen dieser Menschen erlaube ich mir gesondert zu nennen: Unsere Landesbeauftragte für Migra­tion und Teilhabe; Doris Schröder-Köpf, arbeitet ebenfalls ehrenamtlich. Ihr beeindruckendes Engagement verdient eine besondere Anerkennung. Herzlichen Dank dafür!

Aber sind all diese Maßnahmen genug? Es wird kaum jemanden geben, der diese Frage mit einem uneingeschränkten „Ja“ beantworten wird. Natürlich sehen wir die Grenzen, an die wir stoßen. Das sind nicht zuletzt finanzielle Grenzen und Finanzminister Peter-Jürgen Schnei­der geht dabei bis an den Rand des verfassungsrechtlich Möglichen.

Sie kennen die Zahlen: Im Jahr 2014 hat das Land 170 Mio. Euro im Zusammenhang mit Flüchtlingen aufgewandt. Im vergangenen Jahr waren es ca. 620 Mio. Euro und in diesem Jahr werden es voraussichtlich 1,3 Mrd. Euro sein – wenn dieser Betrag denn reicht. Die Kommunen überall in Niedersachsen sehen sich unter einem enormen Druck und werden auch finanziell beansprucht. Das Land wird den Kommunen pro Kopf bekanntlich künftig nicht mehr 6.200 Euro, sondern in diesem Jahr 9.500 und im nächsten Jahr 10.000 Euro zur Verfügung stellen. Darüber hinaus stellt das Land für Liquiditätsstärkung vorab 250 Mio. Euro jährlich bereit.

Wir tun dies aus tiefer Überzeugung, denn die Arbeit der Kommunen in Niedersachsen im Zusammenhang mit der Unterbringung und Integration für Flüchtlinge verdient allerhöchsten Respekt und Unterstützung. Für das Land und für die Kommunen gilt gleichermaßen, dass ein enormes Engagement und die Bereitschaft zum Handeln besteht, Grenzen aber zwangs­läufig ebenfalls sichtbar sind. Und vor allem: Bürgerinnen und Bürger müssen weiter da­rauf vertrauen können, dass ihre Heimatgemeinde berechtigte Erwartungen erfüllen kann.

Ich habe jetzt eine staatliche Ebene noch nicht erwähnt. Über alles gesehen beteiligt sich der Bund 2016 etwa mit 25 % an den Kosten der geflüchteten Menschen. 1/4, das ist nicht viel, vor allem gemessen an dem Umstand, dass der Bund bekanntlich durchaus seinen eigenen Anteil an der Situation hat. 1/4, das ist erst recht nicht viel, gemessen an der fundamentalen Bedeutung, die Erfolg oder Misserfolg der Integration für die Entwicklung unserer weiteren Gesellschaft haben werden. Wir entscheiden jetzt darüber, ob die Bundesrepublik in zehn Jahren von sich behaupten kann, die große Herausforderung durch die Zuwanderung erfolg­reich gemeistert zu haben. Wir stellen jetzt die Weichen dafür, ob unser Land in zehn Jahren stärker oder schwächer sein wird.

Ich betone bewusst, die Dimension der Herausforderung, vor der wir derzeit stehen. Notwen­dig ist eine große gemeinsame Anstrengung aller staatlichen Ebenen. Auch die ganze Ge­sellschaft muss engagiert und mutig die Arbeit der Integration angehen. Wer wollte bestrei­ten, dass diese Aufgaben für die Gesamtheit unserer Gesellschaft bedeutsam sind? Wer wollte bestreiten, dass die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist? Genau das sind die Voraussetzungen, die in Artikel 91a unseres Grundge­setzes für Gemeinschaftsaufgaben des Bundes und der Länder gestellt werden.

Bis jetzt fallen darunter die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, die Verbesse­rung der Agrarstruktur und die Verbesserung des Küstenschutzes. Daran gemessen ist die Integration vieler tausend Menschen in unserem Land doch wohl allemal eine Aufgabe, an der sich der Bund beteiligten muss. Die Finanzminister aller 16 Länder haben in der vergan­genen Woche gemeinsam gefordert, der Bund müsse sich zur Hälfte an den Kosten von Ländern und Kommunen beteiligten. Lassen Sie uns darüber reden und dafür streiten, dass eine solche Gemeinschaftsaufgabe Integration künftig der gemeinsame Rahmen für unser Vorgehen ist. Wir brauchen klare Grundlagen für das Engagement des Bundes in den nächs­ten Jahren!

Es ist viel in Bewegung gekommen, vieles geht in die richtige Richtung, aber vieles wird auch noch geschehen müssen, damit wir Erfolg haben. Integration ist eine Aufgabe von herausra­gender Bedeutung, die sich auf die ganze für mich absehbare Zukunft unserer Gesellschafts­politik stellen wird. Anders ausgedrückt: Wir brauchen nicht in erster Linie Asylpakete und eine Verschärfung des Asylrechts, wir brauchen jetzt Integrationspakete für den Zusammen­halt in unserer Gesellschaft!

Ich bin im Laufe der letzten Monate in vielen Flüchtlingseinrichtungen gewesen. Dort sind mir Menschen begegnet, vor denen ich großen Respekt habe. Sie haben Schicksalsschläge er­tragen müssen, die mir in meinem Leben zum Glück erspart geblieben sind. Sie alle suchen Schutz in Deutschland, aber sie hoffen auch, hier noch einmal aus ihrem Leben noch etwas machen zu können. Geben wir ihnen diese Chance und tun wir damit gleichzeitig unserer Gesellschaft Gutes!

In Niedersachsen gibt es eine große, beeindruckende Bereitschaft, anzupacken. Das Land wird alles daran setzen, damit die Integration gelingt, und ich weiß, dass viele, sehr viele in unserer Gesellschaft dabei mitmachen. Lassen Sie uns also ebenso realistisch wie beherzt, ebenso pragmatisch wie begeistert herangehen an diese Aufgabe, die wir nur gemeinsam gewältigen können. Lassen Sie uns arbeiten für eine gute, gemeinsame Zukunft aller Men­schen bei uns in Niedersachsen!

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

"Integration der Flüchtlinge – unterwegs auf einem langen Weg" Regierungserklärung von Ministerpräsident Stephan Weil am 08.03.2016

 

Artikel-Informationen

erstellt am:
08.03.2016
zuletzt aktualisiert am:
18.08.2016

Ansprechpartner/in:
Pressestelle der Niedersächsischen Landesregierung

Nds. Staatskanzlei
Planckstraße 2
30169 Hannover
Tel: 0511/120-6946
Fax: 0511/120-6833

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