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Humanität und Ordnung - Regierungserklärung des Niedersächsischen Ministerpräsidenten vor dem Niedersächsischen Landtag am 8. November 2023

"Morgen, am 9. November, erinnern wir an eine Reihe von wichtigen Ereignissen der deutschen Geschichte, die allesamt mit diesem Tag verbunden sind. Darunter ist auch der
9. November 1938 – der Tag der Reichspogromnacht, in der die Synagogen brannten, jüdische Geschäfte verwüstet wurden und die allgemein als der Beginn der systematischen Vernichtung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten gilt.

In diesem Jahr wird wegen des furchtbaren Terrors der Hamas zu Recht sicher vor allem an den Zusammenhang der Shoah mit der Errichtung des Staates Israel erinnert werden.

Aber es gibt auch noch einen anderen aktuellen Zusammenhang.

Damals, vor fünfundachtzig Jahren, verließen tausende Jüdinnen und Juden ihre Heimat, um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten. Aber wohin konnten sie sich retten? Alle diese Verfolgten brauchten ein Land, das bereit war, sie aufzunehmen. Für viele war es der Beginn einer jahrelangen Flucht, auf der sie sich niemals sicher fühlen konnten.

Ihre Schicksale waren der Auslöser für eine der wichtigsten Grundlagen des Flüchtlingsschutzes: der Genfer Flüchtlingskonvention.

Und als 1949 später das Grundgesetz verfasst wurde, stand diese Erfahrung Pate für die Entscheidung, dass unsere Verfassung das Grundrecht auf Asyl verbürgt. Und ebenso war es für die Bundesrepublik später selbstverständlich, der Genfer Flüchtlingskonvention beizutreten.

Warum sage ich das? Weil wir uns auch heute, unter sehr schwierigen Bedingungen, zu unserem historischen Erbe und zu den humanitären Wurzeln unseres Staates bekennen müssen. Schutzbedürftigen wollen wir Schutz gewähren, das ist Teil unserer Werteordnung!

Seit damals haben sich allerdings die Verhältnisse fundamental verändert. Heute gibt es keine Flucht mehr aus Deutschland, heute gibt es vielfach die Bitte um Schutz in Deutschland. Und heute ist unser Land das Ziel von tausenden Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind.

In der Summe sind das viel mehr, als wir auf Dauer aufnehmen können. In diesem Jahr dürften es in Niedersachsen etwa 32 000 Personen sein. Übrigens: Eine Mehrheit davon hat ein Schutzrecht. Insgesamt sind seit 2017 etwa 257 000 Menschen bei uns in Niedersachsen angekommen – das entspricht der Größe von Braunschweig. Alleine etwa 100 000 haben wir im letzten Jahr im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg aufgenommen.

Wir spüren in vielen Bereichen, dass diese hohe Zahl für unsere Gesellschaft kaum noch zu verkraften ist. Wir sehen das schon an den immer größer werdenden Problemen, eine Unterkunft bereit zu stellen.

Ein Beispiel: In den Aufnahmezentren befinden sich derzeit viel mehr Menschen als die normale Kapazität dieser Einrichtungen hergibt. Ohne eine starke Verdichtung in Zelten geht es nicht mehr.

Nach der Verteilung in die Kommunen gibt es auch dort große Schwierigkeiten, vor Ort eine einigermaßen angemessene Unterkunft anzubieten. In manchen Kommunen müssen bereits Notunterkünfte aufgestellt werden.

Wir sehen auch ganz unmittelbar die Grenzen, an die unsere Integrationsbemühungen stoßen. Etwa ein Viertel derjenigen, die zu uns kommen, sind Minderjährige, die Betreuung benötigen. Sie kommen in Kitas und Schulen, die ohnedies schon hoch belastet sind.

Wir sehen auch, dass die Aufnahmebereitschaft in unserer Gesellschaft, heute spürbar niedriger ist als etwa 2015/2016.

Das Land baut derzeit Zwischenunterkünfte stark aus, mit denen wir die Kommunen entlasten wollen. Am Ende des ersten Quartals sollen etwa 20 000 Plätze zur Verfügung stehen, das ist ein echter Kraftakt. Wenn die Landesaufnahmebehörde dafür neue Standorte sucht, sind deutliche Proteste leider nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Und auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister überall im Land können davon ein Lied singen.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich herzlich bei allen denen zu bedanken, die sich auch unter diesen schwierigen Bedingungen mit großem Engagement für eine gute Unterbringung, für die Erziehung und Bildung der Kinder, für Sprachförderung oder auch ganz einfach für eine Hilfe in einem neuen Land einsetzen. Mein Dank gilt den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ausländerbehörden und Sozialämtern, Lehrkräften und Kita-Beschäftigten, er gilt den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern ebenso wie den Hauptamtlichen und vielen, vielen mehr. Wir alle wissen Ihr Engagement wirklich sehr zu schätzen und danken Ihnen sehr!

Aber bei aller Anstrengung ist doch unverkennbar, dass die Belastungsgrenze vielfach sehr nahe gerückt oder sogar schon erreicht ist. Es sind in der Summe zu viele Menschen, die Jahr für Jahr unser Land erreichen und es wird so nicht weitergehen können.

Aber wie können wir diese realistische Einschätzung mit unseren humanitären Anliegen verbinden? Die Antwort auf diese Frage lautet: Besonders Schutzbedürftige wollen wir schützen. Wenn wir diesen Anspruch aber aufrechterhalten wollen, müssen wir ebenso konsequent irreguläre Zuwanderung einschränken und eindämmen. Wir müssen legale, kontrollierte Zuwanderung ermöglichen und zugleich den Schleuserbanden das Handwerk legen. Wir müssen die Integration der Schutzbedürftigen vorantreiben und zugleich Menschen ohne Bleiberecht zurückführen.

Es geht um Humanität und Ordnung, das sind zwei Seiten derselben Medaille. Das sind die Leitplanken, an denen wir uns in Zukunft konsequenter und effektiver orientieren müssen als bisher.

Humanität und Ordnung – so lautet auch die Überschrift eines fünfzehn Seiten langen Beschlusses, den vorgestern Nacht der Bundeskanzler und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder gemeinsam gefasst haben. Diese gemeinsame Position ist wichtig – wegen des Inhalts, aber auch wegen der Einigkeit zwischen Bund und Ländern, die darin zum Ausdruck kommt.

Wir wissen doch alle, wie sehr das Thema Migration derzeit viele Menschen in Niedersachsen bewegt und dass diese Auseinandersetzung auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt belastet. Umso wichtiger ist es, dass die politisch Verantwortlichen nicht in erster Linie den Streit untereinander pflegen, sondern einen gemeinsamen Kurs vertreten.

Mit dem Beschluss unterstützen wir zahlreiche Aktivitäten, die auf eine Steuerung der Migration abzielen.

Besonders wichtig ist dabei die europäische Ebene. Wenn Menschen sich erst einmal durch halb Europa nach Deutschland durchgeschlagen haben, ist eine Rückführung natürlich ungleich schwieriger, als wenn eine Prüfung schon an den europäischen Außengrenzen stattfindet.

Dafür benötigen wir auch eine bessere Sicherung der europäischen Außengrenzen. Übrigens: Wenn sich die Grenze zu Polen zu einem Schwerpunkt entwickelt hat, ist das auch ein Beispiel für hybride Kriegsführung der russischen Regierung. Es gibt inzwischen eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen Russland und Weißrussland und den Schlepperbanden.

Wenn danach die Aussicht auf ein Schutzrecht besteht, ist es gerade für uns in Deutschland äußerst wichtig, dass die Verteilung in ganz Europa stattfindet und nicht nur wie bisher in wenigen Mitgliedsländern der EU.

Das alles sind grundlegende Änderungen, um die es derzeit geht. Mit anderen Worten: Gelingt es in nächster Zeit, den europäischen Asyl-Kompromiss unter Dach und Fach zu bringen, ist das ein echter Fortschritt und wir können der Bundesregierung dabei nur viel Erfolg wünschen.

Ein besonders schwieriges Thema unseres Treffens zwischen Bund und Ländern betraf natürlich das Geld. Der Bund hatte seinen Beitrag für die Flüchtlingskosten massiv reduzieren wollen, die Länder haben mit guten Gründen für eine Erhöhung geworben.

Nach dem Ergebnis der Diskussion findet zunächst einmal ein Systemwechsel statt. Anstelle von Jahreszahlungen des Bundes ohne jeden Anspruch soll es künftig klare Spielregeln geben. Es handelt sich um ein atmendes System, das heißt die Zahlungen orientieren sich an der Zahl der Asylsuchenden. Diesen Systemwechsel hatten die Länder seit langem gefordert und sie haben sich damit am Ende durchsetzen können.

Entscheidend ist aber natürlich die Höhe, mit der sich der Bund an den Kosten der Unterbringung von Flüchtlingen beteiligt. Über diese Frage hat es im gesamten Jahr 2023 eine harte Kontroverse zwischen dem Bund und den Ländern gegeben, die wir vorgestern Nacht erfreulicherweise ebenfalls auflösen konnten.

Dabei war die Ausgangslage sehr unterschiedlich. Der Bund wollte seinen Beitrag erheblich kürzen, die Länder haben dagegen deutlich mehr finanzielles Engagement verlangt.

Mit dem Ergebnis können die Länder und Kommunen, so meine ich, sehr zufrieden sein. Zuletzt hatte sich der Bund mit 5000 Euro pro Flüchtling beteiligt. Für das nächste Jahr sollten es dann nur noch 3800 Euro sein und jetzt sind daraus 7500 Euro geworden. Diese Zahlen sprechen für sich – das ist ein großer Erfolg!

Für Niedersachsen hieße das bei gleichbleibenden Flüchtlingszahlen statt 119 Millionen Euro nun 233 Millionen Euro. Das zeigt, das für Länder und Kommunen das Ergebnis dieser langen Nacht sehr gut vertretbar ist. Um aber Missverständnissen vorzubeugen: Im nächsten Jahr ist bei gleichbleibenden Zahlen zunächst nur mit einer Steigerung um 45 Millionen Euro zu rechnen, der Nachschlag erfolgt dann im Folgejahr nach einer Spitzabrechnung. Über das weitere Vorgehen wird die Landesregierung kurzfristig mit den Kommunalen Spitzenverbänden beraten.

Wir müssen irregulärste Zuwanderung möglichst früh unterbinden. Grenzkontrollen werden auf absehbare Zeit notwendig bleiben, jedenfalls im Süden und im Osten. Die Kontrollen beschränken sich nicht auf die Grenzübergänge, sondern finden entlang der gesamten Grenze und auch schon auf dem Gebiet der Nachbarländer statt. Das ist ein wichtiger Fortschritt und wird auf längere Zeit notwendig bleiben.

Bei der Durchführung von Asylverfahren wollen und müssen wir schneller werden. Asylanträge aus Ländern mit einer Schutzquote von weniger? als fünf Prozent werden mit Priorität versehen und sollen insgesamt nicht mehr als sechs Monate dauern. Das gilt inklusive des gerichtlichen Verfahrens. Justizministerin Kathrin Wahlmann arbeitet mit ihren Behörden bereits an einem entsprechenden Konzept.

Die Ausländerbehörden und Leistungsbehörden in Deutschland sollen verstärkt digitalisiert und vernetzt werden, um die Kommunikation zwischen den Behörden wesentlich zu erleichtern.

Vorangetrieben werden soll die Anwendung einer Zahlkarte für Asylsuchende. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, wie bisherige Erfahrungen zeigen, und muss vor allem praxistauglich sein und die Verwaltung entlasten. Wenn darüber hinaus auch Auslandstransfers unterbunden werden können, wäre dies aus meiner Sicht zu begrüßen. Die Unterstützung von Familien im Herkunftsland ist der Hintergrund für manche Zuwanderung. Das mag verständlich sein, ist aber sicher nicht der Sinn von Sozialleistungen.

Einzelne Sozialleistungen sind ebenfalls zu hinterfragen. Asylbewerberinnen und Asylbewerber beiziehen bereits nach 18 Monaten Leistungen analog dem Bürgergeld, auch wenn keine Bleibeperspektive besteht. Andere europäische Länder verhalten sich in solchen Fällen genau umgekehrt und reduzieren in diesen Fällen die Leistungen. Zumindest der Zeitraum für die Zahlung des Bürgergelds schon nach anderthalb Jahren erscheint zweifelhaft. Die Bundesregierung wird hierzu einen Vorschlag machen.

Bund und Länder sind sich sehr einig darin, Rückführungen konsequent voranzutreiben. Hierzu hat die Bundesregierung bekanntlich ein Gesetz mit einer Reihe von Maßnahmen eingebracht. Voraussetzung für eine erfolgreiche Abschiebung ist aber nach allen praktischen Erfahrungen vor allem auch die Bereitschaft des Herkunftsstaates, seine Bürger wieder zurückzunehmen. Bislang gelingt das in vielen Fällen noch nicht und deswegen sind Rückführungsabkommen mit diesen Staaten besonders wichtig. Dieses Vorhaben ist besonders wichtig und muss von der Bundesregierung mit aller Entschiedenheit verfolgt werden.

Das ist nur eine kleine Zahl der Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern, die getroffen worden sind.

Aber auch das ist hervorzuheben: Wo eine Bleibeperspektive besteht, soll die Integration in den Arbeitsmarkt deutlich erleichtert werden. Da geht es um verstärkte Vermittlung durch die Jobcenter. Auch die Anerkennung von Bildungsabschlüssen und Ausbildungen müssen wir wesentlich beschleunigen. Und wir brauchen noch mehr Arbeitgeber, die Geflüchteten eine Chance geben, auch wenn sie noch nicht perfekt Deutsch sprechen. Wir haben ein Interesse an der Arbeitsaufnahme von geflüchteten Menschen.
Das Interesse von Unternehmen mit offenen Stellen, aber auch die Förderung der Integration durch eine geregelte und bezahlte Arbeitsstelle.

Insgesamt gibt es eine ganze Kette von gemeinsamen Positionen zwischen Bund und Ländern, die ich noch wesentlich verlängern könnte und die ein gemeinsames Verständnis zeigen: Es geht um die beschleunigte Integration von Menschen mit Bleiberecht ebenso wie um die beschleunigte Rückführung von Menschen ohne Bleibeperspektive. Das sind die zwei Seiten einer Medaille, von denen ich gesprochen hatte.

Alles in allem waren dies besonders wichtige Beratungen in insgesamt rund siebzehn Stunden im Länderkreis beziehungsweise im Kanzleramt. Wir hatten dabei nicht nur die Zuwanderung als Themen, sondern auch andere wichtige Punkte, wie vor allem den groß angelegten Pakt für Beschleunigung im Bereich der Infrastruktur oder die Zukunft des Deutschland-Tickets.

Natürlich sticht die Zuwanderung unter den aktuellen Bedingungen dabei noch einmal deutlich hervor. Die Diskussion dazu wird weitergehen, das muss auch so sein. Schon am Jahresanfang, so ist es vereinbart worden, wollen wir uns in demselben Kreis wieder treffen. Und ebenfalls vereinbart ist eine pluralistische Kommission, die um Vorschläge zum grundsätzlichen weiteren Vorgehen und zur Strategie gebeten werden wird. Mit einem solchen Vorgehen haben wir auch bei anderen gesellschaftlich besonders umstrittenen Themen gute Erfahrungen gemacht.

Für mich ist unter dem Strich besonders wichtig, dass vorgestern die Verantwortlichen im Bund und den Ländern gemeinsam den weiteren Kurs und die vordringlichen Maßnahmen beschrieben haben. Wir alle wissen, wie sehr Migration und Zuwanderung aktuell derzeit viele Menschen umtreiben und unsere Gesellschaft spalten. Die Regierungen in Bund und Ländern haben dennoch nicht nur im Ziel, sondern auch in wichtigen Einzelthemen zu einem Konsens gefunden.

Selbstverständlich ist das unter den aktuellen Bedingungen nicht, aber umso wichtiger. In Zeiten wie diesen dürfen wir auf gar keinen Fall den Eindruck vermitteln, die Politik würde sich internen Streitereien widmen und nicht den Problemen der Bürger. Das schadet der Demokratie massiv.

Ich finde, das Beispiel der Bund-Länder-Beratungen macht Mut. Bei allen Meinungsverschiedenheiten im Detail müssen Demokraten imstande sein, sich zu verständigen und gemeinsame Werte gemeinsam zu vertreten. Das gilt im Bund, zwischen Bund und Ländern, das gilt auch bei uns in Niedersachsen.

Wir stehen für Humanität und Ordnung, wir stehen zusammen, wir kämpfen gegen Ausländerfeindlichkeit und für Vielfalt, wir verteidigen unsere Demokratie! Das ist das Ergebnis der Bund-Länder-Runde und das ist unser Auftrag in Niedersachsen. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen!"

Presseinformationen Bildrechte: Niedersächsische Staatskanzlei

Artikel-Informationen

erstellt am:
08.11.2023

Ansprechpartner/in:
Pressestelle der Niedersächsischen Landesregierung

Nds. Staatskanzlei
Planckstraße 2
30169 Hannover
Tel: 0511/120-6946
Fax: 0511/120-6833

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