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Initiative für eine "Gesamtstaatliche Bildungsstrategie"

Pressekonferenz in der Vertretungh des Landes Niedersachsen in Berlin
Prof. Dr. Hans-Peter Füssel, Prof. Dr. Martin Baethge, Prof. Jutta Allmendinger PH.D, Ministerpräsident Stephan Weil, Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (von links)

Arbeits- und Lebenswelten und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen insgesamt haben sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt, unser Bildungssystem aber hat diese Entwicklung in seiner Qualität und Finanzierung nicht nachvollzogen und wird den Anforderungen nicht gerecht. Zu diesem eindeutigen Urteil sind elf Experten aus den Bereichen Bildung und Soziologie, Bildungsökonomie und Bildungsrecht[i] gekommen, die in den vergangenen Wochen auf Bitte von Ministerpräsident Stephan Weil und Kultusministerin Frauke Heiligenstadt eine Analyse unserer Bildungslandschaft vorgenommen und konkrete Verbesserungsschritte benannt haben.

Die Analyse der Bildungsexperten ist bitter. Hier wesentliche Ergebnisse:

Demographisch bedingt sinkt die Zahl der Kinder, gleichzeitig steigt die Lebenserwartung bei guter Gesundheit. Immer weniger junge Menschen müssen die Renten für immer mehr ältere Menschen finanzieren. Hinzu kommt, dass seit vielen Jahren immer mehr Arbeitsplätze für gering Qualifizierte wegfallen und der Bedarf an höher Qualifizierten zunimmt. Das deutsche Bildungssystem aber versäumt es bislang, alle Kinder und Jugendlichen und junge Erwachsene ausreichend zu fördern und damit unser Bildungspotential optimal auszuschöpfen. Würden Bildungsangebote und Lernformen stärker auf das Lernvermögen des Einzelnen zugeschnitten, könnten die gesellschaftlich ungleich verteilten Bildungschancen endlich stärker ausgeglichen werden.

Im Einzelnen sind zu einer Verbesserung des Bildungswesens aus Sicht der Bildungsexperten insbesondere die folgenden Maßnahmen dringend erforderlich:

  • Hochwertige frühkindliche Bildungs- und Betreuungsangebote mit genug professionellem Personal, günstigen Gruppengrößen und Altersstrukturen, wirksamer Sprachförderung und einer großen zeitlichen Flexibilität der Einrichtungen. Für Kinder sozial benachteiligter Eltern muss der Zugang zur Kindertagesbetreuung erleichtert werden durch einfach zugängliche Informationen, Fehlanreize wie das Betreuungsgeld müssen abgeschafft werden.

  • Flächendeckend gute Ganztagsschulen als Regelangebot möglichst in gebundener Form mit mehr Zeit, breiteren Lernangeboten und einer höheren sozialen Interaktion.

  • Chancengleichheit endlich herzustellen, Bildungsarmut abzubauen und gleichzeitig Hochbegabte besser zu fördern, kann nur mit einer deutlichen Verbesserung der Qualität von Lehr-Lernprozessen gelingen. Dafür muss die Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals ausgerichtet werden auf

  • einen auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichteten Lernprozess,
  • die individuelle Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Lernausgangslagen,
  • den Umgang mit sozialer, ethnischer, kultureller und leistungsmäßiger Heterogenität und das gemeinsame Lernen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen.

Es ist Zeit, sich von dem Prinzip der schulformenbezogenen Lehramtsausbildung zu verabschieden und konsequent und vorbehaltslos die noch nicht optimale Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und anderem pädagogischen Personal zu intensivieren und zu professionalisieren.

  • Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung muss optimiert werden. Noch immer landen über eine viertel Million Jugendliche nach der Schulzeit in einer der zahlreichen Maßnahmen des sogenannten Übergangssystems, viele davon ohne Hauptschulabschluss. Das allgemeinbildende Schulwesen, die verschiedenen Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, der Jugendberufshilfe, der Betriebe und anderer Einrichtungen müssen effektiver ineinandergreifen. Dazu sind institutionenübergreifende Gestaltungskonzepte, Kooperationen und Ressourcenkoordinierung erforderlich. Berufsorientierung und Berufsvorbereitung an allgemeinbildenden Schulen müssen ausgebaut, der Einstieg in den Betrieb oder in vollzeitschulische Berufsbildungsgänge muss erleichtert werden.

Die Bildungsexperten mahnten in ihrem Abschlusspapier eine „Gesamtstaatliche Bildungsstrategie“ an. Ministerpräsident Stephan Weil hat im Zusammenhang mit der (heutigen) Vorstellung des Papiers darauf hingewiesen, dass Bildung seit einigen Jahren im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehe, einen großen Raum in fast jedem Wahlprogramm einnehme und Gegenstand unzähliger Sonntagsreden sei. Kaum eine der diskutierten und vielleicht sogar eingeleiteten Reformen aber sei konsequent zu Ende gebracht worden. Sie verhedderten sich im Gestrüpp des Parteienstreits oder scheiterten schlicht am fehlenden Geld. Gleichzeitig aber steige der Reformdruck vor dem Hintergrund des demographischen Wandels.

„Ich teile ausdrücklich die in der ,Gesamtstaatlichen Bildungsstrategie‘ von den Experten zusammengefassten Analysen, Mahnungen und Forderungen. Im Bildungsbereich muss sich grundlegend etwas ändern“, sagte Ministerpräsident Weil. „Es geht um nicht weniger als um die Zukunft unserer Gesellschaft.“ Es müsse endlich Schluss sein mit Sonntagsreden.

„Die Lösungskonzepte liegen auf dem Tisch und es gibt einen erstaunlich großen Konsens über die Notwendigkeit gerade dieser Maßnahmen“, fasst Weil zusammen. „Für diese und weitere sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung unseres Bildungssystems aber brauchen wir deutlich mehr als die bislang bereitgestellten Haushaltsmittel. Deutschland investiert zu wenig in Bildung, weil Ländern und Kommunen als Hauptlastenträger der Bildungsausgaben das Geld fehlt!“

Die Bildungsexperten haben es bestätigt: Im Vergleich der OECD-Staaten liegt Deutschland weit zurück. Vor allem im wichtigen Grundlagenbereich: Kita, Grundschule und der Sekundarstufe I. Während die übrigen OECD-Länder 2011 im Mittel 5,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in ihr öffentliches Bildungssystem investieren, bringt es Deutschland nur auf 4,4 Prozent.

„Die Finanzsituation der Kommunen ist denkbar inkonsistent“, so Ministerpräsident Weil, „Länder und Kommunen sind überwiegend nicht in der Lage, die notwendigen Investitionen zu stemmen.“

Um Deutschlands staatliche Bildungsausgaben auf dieses Level zu heben, erläuterte Kultusministerin Heiligenstadt, wären Jahr für Jahr zusätzlich 23,5 Milliarden Euro nötig. Die finanzschwächsten Akteure müssten den Löwenanteil der Kosten tragen: die Länder 70,7 Prozent, die Kommunen 22 Prozent, der Bund aber nur 7,3 Prozent.

Die Niedersächsische Landesregierung habe, so Heiligenstadt, in den Jahren 2014 und 2015 den Haushalt für die allgemeinbildenden Schulen und die Berufsbildenden Schulen um rund 311,4 Mio. Euro gesteigert. Während der Landeshaushalt insgesamt nur um 4,48 Prozent aufgewachsen sei, seien die Bildungsausgaben in Niedersachsen in diesen Jahren um 6,15 Prozent gestiegen. Dies sei auch durch Kürzungen in anderen Feldern des Haushaltes realisiert worden. Eine solche Kraftanstrengung sei in den kommenden Jahren aber kaum noch zu wiederholen – zumal auch mehr Mittel für die Hochschulen eingesetzt werden müssten. Zusätzlich eingeengt werde der Finanzspielraum durch die Vorgaben der „Schuldenbremse“.

Auch die aus den Vorschlägen der Bildungsexperten resultierenden finanziellen Bedarfe lassen sich am Beispiel Niedersachsens konkret belegen. Wenn Niedersachsen lediglich die zentralen Reformen konsequent und auf dem geforderten hohen Niveau umsetzen wolle, dann müsste das Land, so Heiligenstadt, Jahr für Jahr rund 1,787 Milliarden Euro zusätzlich in die allgemeinbildenden Schulen investieren: Rund 672 Millionen Euro für volle Ganztagsschulen, 491 Millionen Euro in die Inklusion, 100 Millionen Euro in die Frühkindliche Bildung und 164 Millionen Euro für sozialpädagogische Hilfen und Förderung. Hinzu kämen noch mal 360 Millionen Euro für die Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit einem Lap-Top. Diese Aufgabe könne Niedersachsen aber schlichtweg nicht alleine schultern.

Weil: „Deutschland kann sich junge Menschen ohne ausreichende Bildung nicht leisten. Deshalb brauchen wir jetzt und nicht erst in einigen Jahren eine ‚Gesamtstaatliche Bildungsstrategie‘.“

Der niedersächsische Regierungschef skizzierte hierzu wesentliche Grundzüge:

  1. Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam Anstrengungen für eine bundesweite Aufstockung der Bildungsausgaben um mindestens 20 Milliarden Euro p. a. unternehmen. Dabei muss der Bund einen größeren Anteil als bisher übernehmen, um die Länder und Kommunen zu entlasten. Die bisher durch die BAFÖG-Entlastung aufgebrachten Milliarden reichen nicht aus.

  2. Zur Umsetzung dieser konzertierten bildungspolitischen Offensive soll die Einsetzung einer föderalen Kommission „Bildung“ unter Einbeziehung von Bund, Länder und Kommunen und unter Heranziehung wissenschaftlicher Kompetenz dienen. Dort muss ein Masterplan aufgestellt werden mit allen notwendigen Schritten und den dafür erforderlichen Finanzmitteln.

  3. Voraussetzung für gemeinsame Finanzierung der Maßnahmen zur konsequenten Verbesserung unseres Bildungssystems ist völlige Streichung des Kooperationsverbotes aus dem Grundgesetz. Nur dann können Finanzmittel des Bundes auch etwa für die Inklusion und an anderen Stellen im Schulbereich eingesetzt werden.

  1. Alternativ wäre auch eine Regelung der neu zu regelnden Finanzierungsstrukturen über Staatsverträge möglich. Die Zuständigkeit der Länder im föderalen System darf dabei jedoch nicht aufgeweicht werden, sinnvoll sind allerdings bundesweit gemeinsame Qualitätsstandards im Bildungsbereich.

  1. Um Spielräume für die Finanzierung dieser enorm hohen Kosten zu gewinnen, müssen wir gemeinsam bereit sein, bisherige Finanzströme umzuleiten, weg von familienpolitisch ineffektiven Programmen und hin zu einer besseren öffentlichen Bildungsfinanzierung, beispielsweise durch eine Reform und Einschränkung des Ehegattensplittings (Kosten 2013 ca. 20,3 Milliarden Euro). Darüber hinaus geht es darum, neue Spielräume zu erschließen, wie etwa die Einführung der Finanztransaktionssteuer für bildungspolitische Maßnahmen (Einnahmeschätzungen für Deutschland zwischen 10 und 17 Milliarden Euro).


[i]Die unter der beigefügten Erklärung aufgeführten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten u.a. im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), im Institut für Erziehungswissenschaften an der Humboldt Universität Berlin, im Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), im Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität, an der LEUPHANA Universität Lüneburg, im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Berlin und an der Leibniz-Universität Hannover.

Presseinformationen
Gesamtstaatliche Bildungsstrategie

  Gesamtstaatliche Bildungsstrategie
(PDF, 0,82 MB)

Artikel-Informationen

erstellt am:
28.11.2014
zuletzt aktualisiert am:
01.12.2014

Ansprechpartner/in:
Pressestelle der Niedersächsischen Landesregierung

Nds. Staatskanzlei
Planckstraße 2
30169 Hannover
Tel: 0511/120-6946
Fax: 0511/120-6833

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